Abschiede

Freddy

Als vor Jahren die Anfrage für Tiere aus einem Animal-hoarding-Fall kam, sagte ich zunächst ab. Kein Platz, kein Personal, kein Geld und jede Menge Stress am Hals. Monate später hatte die Nachlassverwalterin des verstorbenen Halters die meisten Tiere bei Züchtern untergebracht. Ein altes kastriertes einsames Hängebauchschwein war übriggeblieben. Anfragen bei Tierschutzprojekten hier in der Nähe, die bereits Schweine hielten, waren erfolglos. Die Tötung stand im Raum.

Freddy konnte sich damals kaum auf den Beinen halten. Er hatte 30 Kilo Übergewicht, war mit Nudeln ernährt worden. Er hatte auf Beton gelebt, ohne Auslauf. Die Hütte, die in seinem Betonverlies stand, konnte er nicht nutzen, weil er seit Jahren viel zu dick war, um durch den Eingang zu passen. Freddy hatte verkrümmte Beine und viel zu lange Klauen, weil er fast nur gelegen hatte. Das Aufstehen fiel ihm schwer und jeder Schritt tat weh. Man mochte kaum hinsehen. Der zuständige Amtstierarzt hatte aber Hoffnung für Freddy. Wenn er Zuwendung und eine anregende Umgebung bekommen würde und 30 Kilo abnehmen würde, ein Drittel seines Körpergewichts, dann könnten auch seine Bewegungsprobleme viel weniger werden, meinte er.

Nach Absprache mit dem Amtsveterinär, dem ich die Lebensbedingungen, die bei uns möglich wären, schilderte, kamen wir überein, es mit dem alten Schweineherrn zu versuchen, da das Leben bei uns eine große Verbesserung gegenüber seinem bisherigen Leben darstellen würde. Allerdings würde er auch bei uns keine Schweinegesellschaft bekommen. Da er allein gehalten worden, stark gehbehindert war und sich gegenüber einem stärkeren anderen Schwein nicht würde behaupten können, konnten wir das Risiko nicht eingehen, am Ende zwei Schweine zu haben, die wir jeweils einzeln halten mussten

Wir wussten auch nicht, wie er sich gegenüber Artgenossen verhalten würde. Aber er würde jederzeit durch den großen Garten streifen können, hätte viel zu erkunden und zu beobachten, würde gesundes Essen bekommen, ein weiches, geschütztes Bett und jederzeit tierärztliche Hilfe. Freddy hatte nichts zu verlieren und alles war besser als das, was er bisher erlebt hatte.

Wir bauten also unseren Hühner- und Katzengarten um, versahen ihn mit einem zweiten Innenzaun, wie es für Schweinehaltung vorgeschrieben ist. Wir mussten einigen Aufwand betreiben, um eine Transportkiste für Schweine zu erstehen. Theresa, die uns für Freddy kontaktiert hatte, gewöhnte ihn über Wochen daran, ein paar Schritte aus seinem Betonverlies in Richtung Tür zu gehen und sich auch in die Transportkiste zu begeben.

Es war noch Coronazeit, als ihn schließlich vier Männer auf den Pferdehänger tragen und in Rietberg wieder ausladen konnten. Das Prozedere versetzte Freddy in Todesangst. Er kollabierte. Doch er erholte sich wieder.

Bei all dem wich ihm seine Freundin Theresa nicht von der Seite. Auch als er bei uns war, war sie immer zur Stelle, wenn Freddy Hilfe brauchte, die nur jemand leisten konnte, zu dem er Vertrauen hatte. Als ein Fremdkörper in seinem Auge saß und er niemanden, erst recht keinen Tierarzt, an sich heranließ, schaffte Theresa es, das Ding aus seinem Auge zu spülen.

Nein, Vertrauen zu Menschen hatte Freddy nicht. Wir durften ihn versorgen, aber er hat uns jede Narkose nachgetragen. Verständlich, musste er doch jedes Mal davon ausgehen, dass sein letztes Stündchen geschlagen hatte, wie für all die Schweine, die tagtäglich roher Gewalt völlig ausgeliefert sind und dann auch noch qualvoll getötet werden. Allerdings ließ er wach keine Klauenkorrektur zu und musste dafür leider immer narkotisiert werden.

Ganz langsam lernte Freddy bei uns wieder gehen, später auch laufen. Wir lockten ihn mit einzelnen Leckerbissen Schritt für Schritt vorwärts. Seine Beine wurden nie wieder gerade, aber er konnte nach etlichen Monaten auf seinen verkrümmten Beinen sehr schnell traben und sogar galoppieren, wenn er es eilig hatte, weil er zum Essen gerufen wurde.

Durch die Fehl- und Mangelernährung hatte Freddy starken Zinkmangel und eine extrem verdickte Haut mit tiefen Rissen bekommen. Sie juckte. Wir versuchten alles Mögliche um ihm Erleichterung zu verschaffen, aber es dauerte viele Monate, bis seine Haut dünner und die Risse flacher wurden. Eine wirklich gesunde Haut konnten wir ihm nicht verschaffen, aber nach etwa einem halben Jahr war der Juckreiz weg.

Schweine können ohnehin nicht so gut sehen, aber Freddys Sichtfeld war durch das Übergewicht und die verdickte Haut anfangs noch mehr eingeengt. Die neue Umgebung um ihn herum konnte er anfangs kaum betrachten. Er orientierte sich vor allem über Geruch und Geräusche. Irgendwann aber konnten wir dann seine Augen sehen. Es blieb für uns immer etwas Besonders, in Freddys braune Augen sehen zu können und zu merken, dass er uns auch sah.

Nach und nach erkundete Freddy immer selbstständiger seinen neuen großen spannenden Lebensraum mit den vielen Mitbewohnern. Jahrelang verlangte er frühmorgens mit kräftigem Ruff-Ruff, dass die Stalltür sich öffnete und es Frühstück gab.

Jeden Abend wurde er mit einem Betthupferl ins Bett gebracht. Seine gemütliche isolierte Schweineschlafhütte hatte ihm Flori gebaut. Tagsüber streifte Freddy durch den Garten, wie es ihm beliebte. Er hatte viele Freunde. Es gab nie Probleme mit den anderen Tieren. Sehr niedlich waren immer seine Begegnungen mit den Eseln.

Zu Anfang mussten wir sehr vorsichtig sein mit Freddy. Er konnte kräftig zubeißen und auch seine Hauer hinterließen an Schienbeinen deutliche Spuren. Nach und nach tasteten wir uns aber aneinander heran. Später konnten ihn viele Menschen auch aus der Hand füttern. Gerne ließ sich Freddy von uns bürsten. Er genoss es sehr, wenn man seinen ganzen Körper durchmassierte, lehnte sich dann immer genüsslich gegen die bürstende Hand.

Viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernten Freddy kennen. Sie alle erfuhren, dass Schweine überhaupt nicht stinken. Freddy bekam jeden Tag seinen Stall und den Auslauf gesäubert und es stank bei ihm nie. Völlig anders in den Schweineställen der Tierwirtschaft, wo die armen Tiere mit ihren empfindlichen Nasen und ihrem Reinlichkeitsbedürfnis über und in ihrem Kot und Urin eingepfercht sind. Oder wenn einer dieser Transporter vor einem herfährt, auf dem Schweine in den Tod gekarrt werden, deren Haut den Gestank ihrer Ausscheidungen angenommen hat. Es ist unfassbar, was wir Tieren antun lassen! Um einmal kurz einen Teil ihres Körpers im Mund zu schmecken und abzuschlucken. Dabei gibt es so viel anderes zu essen. Kein Tier müsste für unser Essen leiden und sterben.

Ein paarmal war Freddy krank in den 5 Jahren, die er bei uns war. Allerdings ist es nicht üblich, Schweine in gleicher Weise gründlich und weiterführend zu untersuchen wie Hunde, Katzen oder Pferde. In der Landwirtschaft zählt das einzelne Tier kaum. Schweine werden üblicherweise mit einem halben Jahr, als Kinder also, geschlachtet. Wer vorher krank wird, darf keinesfalls viel Geld kosten. Schweine dürfen als sogenannte „lebensmittelliefernde Tiere“ viele Medikamente gar nicht erst bekommen. In unserem Land ist der Umgang mit Schweinen, Kühen, Hühnern und anderen landwirtschaftlich genutzten Tieren vollkommen darauf ausgerichtet, diese möglichst billig zu viel Fleisch zu machen. Da verwundert es nicht, dass Tierärzte wenig Untersuchungs- und Handlungsoptionen haben, wenn solche Tiere krank werden und doch mal ein Halter weiterführende Untersuchungen und Behandlungen möchte.

Wie alle Schweine war Freddy sehr empfindsam und klug. Wir haben uns viel Mühe mit ihm gegeben. Jedes Mal, wenn es Probleme gab und er untersucht oder in Narkose gelegt werden musste, war das mit großem Umstand und vielen Überlegungen verbunden, wie man das Prozedere für ihn so wenig beängstigend wie möglich gestalten konnte. Schweine sind sehr ängstlich, spüren sofort, wenn etwas anders ist als sonst. Immer wenn wir uns so viel Mühe mit Freddy gegeben hatten, musste ich an seine Artgenossen denken, die als Massenware in die Welt gezwungen werden, als Massenware kurze Zeit ein schreckliches Leben führen, egal ob in der Tierwirtschaft oder im Versuchslabor, und die dann noch qualvoll in den Tod befördert werden.

Die grausame Wahrheit über den täglichen Umgang mit Tieren in der Tierwirtschaft erfahren wir durch Undercoverfilme. Niemand kann behaupten, es nicht gewusst zu haben. Auch wenn diese Filme oft spät abends gesendet werden, sind sie ja jederzeit zugänglich.

Die Schuld, die wir Menschen auf uns laden durch Tierproduktion, Tiertransporte, Tötung, durch Tierversuche, Jagd aber auch viele andere Tierquälereien, auch durch Wegsehen und indem wir all das einfach geschehen lassen, können wir nie wieder gut machen.

Aber wir alle können viel dazu beitragen, all das zu beenden.

Freddy war unheimlich beliebt bei allen Besuchern des Tierschutzhofes. Er war niemandem etwas schuldig, auch seinen Artgenossen nicht, aber allein dadurch, dass er war, wie er war, hat er unglaublich viel für sie getan. Obwohl er allen Grund gehabt hätte, Menschen für immer links liegen zu lassen, und obwohl ihm manche Ängste blieben, hat er Fremden immer wieder seine freundliche, interessierte Seite gezeigt. Unzählige Kinder und Erwachsene, die ihn hier ein bisschen kennenlernen konnten, haben einer Persönlichkeit gegenübergestanden, die man ernstnimmt und respektiert. Wer Freddy treffen durfte, hatte Gelegenheit, seinen Blick auf Schweine zu verändern.

Patenschaften sind ein wichtiger Teil der Hilfe für unsere Tiere. Wenn sie auch die extrem hohen Kosten für die Tierversorgung noch lange nicht decken können, so helfen sie uns doch, überhaupt etwas Planungssicherheit zu haben, da wir, anders als Tierheime, keinerlei Unterstützung, auch keine unregelmäßige, durch die Kommunen erhalten. Ohne die zuverlässige Hilfe durch Patenschaften können wir für die Tiere nicht weitermachen.

Für Freddy gab es drei Teilpatenschaften. Wir danken seinen PatInnen dafür, dass sie mit ihren Spenden mitgeholfen haben, dass Freddy eine lange schöne Zeit bei uns haben konnte. Ganz besonders danken wir Theresa dafür, dass sie immer zur Stelle war, wenn Freddy sie brauchte, sogar wenn sie selbst einmal krank war. Theresa war auch in Freddys letzten Lebensstunden hier und zusammen gingen wir mit ihm seinen letzten Weg. Freddy hatte viele Narkosen bekommen müssen. Bei seiner letzten Narkose war er ganz ruhig. Er wusste, dass die Zeit gekommen war, zu gehen, da bin ich mir sicher.

Lieber Freddy, du hast furchtbare Jahre erlebt und viel gelitten. Diese Zeit war so lang. Nach all dem, was Menschen dir angetan hatten, warst du trotzdem bereit, uns immer wieder zu verzeihen, dass wir dich mit Behandlungen ängstigen mussten. Du hast viel Gutes bewirkt für deine Verwandten in den Ställen, den Transportern, in der Gasgrube. Du hast unzähligen Menschen vermittelt, dass ein Schwein eine Persönlichkeit ist, kein Lebensmittel, wie wir Tierärzte es fälschlicherweise im Studium beigebracht bekommen haben. Lieber Freddy, mach es gut. Danke, dass du uns so lange deine Lebensfreude hast miterleben lassen.

Danke Ihnen, Freddys PatInnen und Ihnen allen, die uns helfen weiterzumachen für ALLE Tiere. Herzlichen Dank, dass Sie bei uns sind und mithelfen, Menschen zu zeigen, wie Tiere leben wollen, was Tiere durch Menschen erleiden und was wir alle tun können, damit das aufhört: durch Bildungsarbeit, Bildungsarbeit und nochmal Bildungsarbeit.

Danke Theresa, für alles, was du für dieses kleine alte grummelige liebenswerte Schwein getan hast!